Katrin fing an: „Heute ist Maria Lichtmess, ein Fest, an dem ich auf das vor mir liegende Jahr schaue und darüber nachdenke, was ich mir dafür vornehme. Kennen Sie diese Tradition? Sie stammt aus der Zeit, in der auf den Bauernhöfen das neue Erntejahr vorbereitet wurde.“
Martin nickte. „Und es freut mich, dass Sie sie auch kennen.“
Katrin schlug die Beine übereinander und strich mit der Hand über den weichen Pullover, den sie trug. Sie wiegte den Kopf: „Ich hatte eine erzkatholische Kindheit, und es macht mir manchmal selbst Angst, mit welcher Penetranz dieses Wissen in mir haftet. Es gibt immer noch Daten, bei denen ich wie automatisch an das kirchliche Fest denke.“
Martin war verblüfft: „Das tun Sie?“
Katrin schüttelte ungläubig den Kopf: „Ja: Maria Lichtmess, einige Heiligenfeste, Kreuzerhöhung, Erzengel am 29. September, lauter so Zeug.“
Martin hatte es anders erlebt: „Da ich ohne Bekenntnis aufgewachsen bin, hat es bei mir lange gedauert, bis ich das alles gelernt habe. Ich werde nie wissen, ob ich ein besserer Christ wäre, wenn ich eine religiöse Kindheit gehabt hätte.“
Katrin wand ein: „Oder ein schlechterer? Vielleicht habe ich mit der Kirche auch deshalb Probleme, weil ich unter ihrer Enge gelitten habe. Heute, als Erwachsene hätte ich sicher andere Möglichkeiten, mit dieser Engstirnigkeit umzugehen, damals war ich ihr ausgeliefert. Vielleicht war Ihrer der bessere, weniger schmerzhafte Zugang.“
Martin war berührt von ihrer Offenheit: „Ich habe immer gedacht, Psychologen reden niemals von sich selbst, aber Sie sind ganz anders!“
„Ja, ich weiß, viele KollegInnen tun das nicht. Aber ich bin der Ansicht, dass es unseren KlientInnen gut tut, wenn sie uns als normale Menschen mit Vorlieben und Schwächen sehen statt als Supermodel. Wie geht es Ihnen damit? Ist das für Sie schwer auszuhalten?“
Martin schüttelte energisch den Kopf: „Nein, im Gegenteil! Sie werden mehr zu einem Gegenüber, vor dem ich mich nicht schämen muss. Und ich denke darüber nach, wie es wohl meinen Pfarrangehörigen mit mir geht. Wenn ich mir die Frage erlauben darf: Haben Sie nicht die Erfahrung gemacht, dass Menschen an der Therapie zweifeln, wenn sie sehen, dass es der Therapeutin selbst nicht gut geht?“
Katrin sah ihn eine Weile an: „Nun, ich breche nicht in Tränen aus, das wäre therapeutisch nicht sinnvoll, denn es würde die Aufmerksamkeit von Ihnen auf mich ziehen. Aber ob ich an Glaubwürdigkeit verliere können Sie wahrscheinlich besser beurteilen als ich. Nehmen Sie mich weniger ernst, weil Sie das von mir wissen?“
Martin schwieg lange. Er sah gut aus in seiner braunen Hose, die gut zu dem beigen Hemd und der dunklen Weste passte, die er während des Nachdenkens enger um sich zog. „Beeindruckend, sehr beeindruckend! Sie müssen sehr mutig sein. Das bin ich nicht.“
Katrin drehte die Hände nach außen. „Was könnte passieren?“
„Wenn ich zugebe, dass es mir nicht gut geht? Glauben Sie, dass noch jemand an Gott glaubt, wenn nicht einmal ich als Priester es schaffe?“
„Nun, Sie könnten es ja dosieren. Wahrscheinlich wäre es taktisch unklug, bei einem Hochamt mit Bischof von der Kanzel zu verkünden, dass das alles totaler Schwachsinn ist.“ Sie lachte auf: „Wenn ich persönlich das auch gerne miterleben würde. Ich gebe zu, es wäre sogar meine Lieblingsoption!“
Martin stimmte ihr lachend zu. „Dann hätte der Bischof wenigstens einen handfesten Grund für seine Skepsis mir gegenüber!“
Sie wurde wieder ernst: „Und Sie haben selbst gesagt, dass es mir und meiner Glaubwürdigkeit nicht schadet, wenn Sie das von mir wissen. Muss es bei Ihnen anders sein?“
Martin zögerte, sagte aber dann doch: „Bei mir geht es um etwas Wichtigeres, um Gott. Das Seelenheil der mir Anvertrauten sollte ich nicht aufs Spiel setzen.“
Katrin schluckte die provokante Äußerung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter und erwiderte stattdessen: „Ich mag den Satz: Es kommt auf mich an, aber es hängt nicht von mir ab. Das zeigt, dass ich mich zwar bemühen muss, aber dass die Welt nicht stehenbleibt, wenn ich versage. Könnte Ihnen das helfen?“
Er senkte den Kopf: „Ich bin sowieso ein unwürdiges Werkzeug in Gottes Hand und seinem ewigen Plan.“
Katrin seufzte: „Es geht mir nicht gut, wenn Sie so etwas sagen. Wenn Sie das ehrlich meinen, macht es mich traurig, und wenn es ein eingelernter Stehsatz ist, dann kommt in mir Widerstand auf.“
Martin nickte, antwortete aber darauf nichts. Seine Blicke wanderten zum großen Blumentopf, in dem ein riesiger Ficus Benjamini wuchs. Der Topf war sehr kreativ dekoriert, es gab mosaikartige Fliesenstückchen, dazwischen Spiegelteile. Katrin hatte ihn selbst gestaltet.